Kapitel zehn
Für all jene, die in der Stunde der Not in ihrem Präsidenten ein ermutigendes Vorbild zu finden gehofft hatten, war Blaine Fracass eine herbe Enttäuschung. Als Gegenleistung für die Betäubung seiner gebrochenen Hand erniedrigte er sich zum Lakaien der Terroristen. Seine Pflichten waren vielfältig. Er übermittelte den Passagieren die Anweisungen bezüglich der Waschraumbenutzung, erfreute sich des Privilegs, die unregelmäßigen und viel zu seltenen Mahlzeiten servieren zu dürfen, und reinigte die Toiletten, wenn sie auf Grund der Überfrequentierung wieder einmal verstopft waren. Kurz und gut, der Präsident wurde zum Faktotum, eine Quelle der Verlegenheit für seine Anhänger und eine armselige Gestalt für die übrigen Passagiere. Und als die Minuten vorüberschlichen und zu langen, unerträglichen Stunden voller Angst verschmolzen, ergriff dieselbe schwere und allumfassende Mutlosigkeit auch von dem standhaftesten Passagier Besitz. Unsere Gruppe verfiel in eine kollektive Lähmung, aus der nicht einmal die gelegentlichen ideologischen Tiraden unserer Entführer uns aufrütteln konnten. Besonders meine Lage war merkwürdig, wenn nicht delikat, und ich sollte hier eine kurze Erläuterung einfügen. Einfach gesagt, ich sympathisierte mit der Politik der neuen Gebieter, doch litt ich unter ihren Methoden, also konnte ich mich mit keiner Seite identifizieren, während ich von beiden gepeinigt wurde. Eine seltsame Situation, finden Sie nicht? Und vielleicht die grausamste Zwickmühle überhaupt. Stumm verdammte ich die Aquarier und ihr Gerede von einem mitleidigen Kosmos, denn nie schien mir Horizont ferner zu sein und ein Wiedersehen mit Jubilee und Tad unwahrscheinlicher. Ich sann darüber nach, ob Juniors Philosophie doch die richtige gewesen war: Agierte ich auf einer der Bühnen droben und büßte für die Fehler aus vergangenen Reinkarnationen? Möglich, aber wenn ja, welches Verbrechen rechtfertigte eine solche Sühne? Alle Missetaten, die ich vielleicht begangen hatte, waren unbeabsichtigt, bis auf meinen kleinen Racheakt an Roland – Sie erinnern sich, die Pillen? –, und dafür war ich bereits ausreichend gestraft worden, wie die Narbe an meinem Rücken und die in den Stallungen verlorenen Jahre bezeugen konnten. Und nicht ich hatte die tragbare Medienkonsole geworfen, die Roland aus dem Cadillac und in den Tod stieß; das war Eva gewesen. Dann fiel mir die Rolle ein, die ich als Androidenterroristin in Terror Orbit gespielt und wie sehr ich sie genossen hatte. War das Universum so unkritisch, daß man sogar für fiktive Verbrechen bezahlen mußte? Wie absurd! Nein. Sämtliche Theorien von einer zyklischen oder hierarchischen Gesetzmäßigkeit des Kosmos waren ebenso schlüpfrig und wenig greifbar wie die Behauptungen meines Erweckers, des Chefs, dessen eigene Termination durch die Ingenieure Pirouets meinem anfänglichen Glauben an seine Philosophie ein verständliches Ende gesetzt hatte. Der letzte Funke Interesse, durch Tad und Anna in mir angefacht, war durch diesen jüngsten Schicksalsschlag ausgelöscht worden. Nein. Es gab nur eins, dessen ich mir ganz sicher war: Wenn es bei dieser Entführung nicht bald zu einer Einigung kam, lief meine Frist ab, und der aktivierte Alarm würde mich um den Verstand bringen.
In der zwölften Stunde unseres Martyriums, siebzehneinhalb Stunden, nachdem ich von der AÜ in Armstrong markiert worden war, erreichte unser Schiff den Roten Planeten. Doch unsere Hoffnungen wurden enttäuscht, als wir, statt am Raumhafen anzudocken, in eine Umlaufbahn einschwenkten, weil die Verhandlungen mit der Regierung von Frontera immer noch kein Ergebnis gebracht hatten. »Komm schon, Smedly. Laß uns nicht hängen«, hörte ich Blaine murmeln. »So nah und doch fern«, sagte einer der anderen Humanisten wie im Traum. Dann tauchte steuerbord die Flotte auf. Das große Panoramafenster gewährte einen ungehinderten Ausblick. Es waren ein halbes Dutzend Zerstörer und zwei Schlachtenkreuzer, alle mit den Insignien der Raumstreitkräfte von Frontera versehen. Ihr Auftauchen erzürnte die Entführer, die sich eine freie Zone von fünfhundert Meilen ausbedungen hatten. Sie wurden grob, reizbar und nervös, was unsere Angst vergrößerte, denn wir fürchteten, die geringste Provokation könnte Hinrichtungen zur Folge haben. Nach weiteren drei Stunden ergebnislosen Hin und Hers verkündete der Pilot über Lautsprecher, daß die Gebieter offenbar weder an ihren Forderungen noch an unserem Wohlergehen interessiert seien. Wenn man in Frontera erst Leichen sehen mußte, um die RAG ernst zu nehmen – bitte sehr.
Unsere Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt, jeden Moment rechneten wir damit, daß man einen von uns auswählte und mit dem Laser niederschoß oder zur Luftschleuse führte. Und niemand, absolut niemand, am allerwenigsten Blaine, wünschte sich eine gewagte Rettungsaktion der Flotte, erst recht nicht, als der Pilot bekanntgab, bei den ersten Anzeichen von Feindseligkeiten würde man unseren neuen Kabinensteward ins All hinauskatapultieren. Daher wirkte es keineswegs – wie vielleicht beabsichtigt – beruhigend auf uns, daß die Zerstörer und kleineren Angriffskreuzer unser Schiff umkreisten, am Heck aus dem Sichtbereich verschwanden, um seitlich wieder aufzutauchen. Je länger die Flotte mit uns auf gleichem Kurs blieb, desto inbrünstiger beteten meine Gefährten, sie möchte einfach abziehen oder uns zum Raumhafen eskortieren. Obwohl man nur einen hysterischen Passagier im rückwärtigen Abteil schreien hörte: »Bitte, um der Liebe Gottes willen, gebt diesen Droidenbastarden, was sie verlangen!«, glaube ich, daß diese Auffassung insgeheim von allen geteilt wurde. Blaine konnte man beim Reinigen der Toiletten seine eigene, ziemlich paranoide Interpretation des Geschehens vor sich hin brabbeln hören: »Sie werden angreifen. Lieber Gott, das ist kein Geiseldrama, es ist eine Verschwörung. Micki Dee ist zu Smedly umgeschwenkt. Man will mich aus dem Weg räumen!« (Ich sage ziemlich paranoid, weil er mit der ersten Vermutung recht behalten sollte, während die zweite – obwohl in Anbetracht der interplanetaren Realpolitik gar nicht abwegig – sich in diesem konkreten Fall als völlig unbegründet erwies.) Als die Entführer zur Vorsicht Raumanzüge anzulegen begannen – die leuchtend gelben, aufblasbaren Standardexemplare, die man unter den Sitzen der Raumer vorfindet –, folgten sämtliche Passagiere ihrem Beispiel, und die Spannung verstärkte sich dramatisch. Manche Passagiere setzten in ihrer Angst die Helme auf, und einige sah man nervös an der Reißleine fummeln. Bei einem Schnarren der Klimaanlage geriet einer von ihnen in Panik und schwebte als gelber Ballon zur Decke, was eine beträchtliche Aufregung verursachte. Unsere Entführer demonstrierten ihr Mißvergnügen, indem sie den Anzug mit einem Tischmesser zerstachen und den abgehobenen Passagier mit einem lauten, trockenen Knall wieder auf das Polyätherschaumpolster der Tatsachen zurückholten.
Zwei Stunden später tauchte eine zweite Flotte auf. Diese Schiffe waren erheblich kleiner als die Zerstörer und Kreuzer der Streitkräfte und mit einem ganzen Arsenal von skurrilen Teleskoparmen und Greifern ausgestattet, die sich ständig drehten, wendeten und reckten, um uns aus einem möglichst günstigen Winkel beobachten zu können. Anfangs hielten sie sich in respektvoller Entfernung und bildeten einen äußeren Ring um die Flotte, doch nach wenigen Minuten schon kamen sie langsam näher, wie Motten, die vom Licht angezogen werden, bis die meisten von ihnen zwischen den Kriegsschiffen hindurchgeschlüpft waren. Ein oder zwei der kühnsten näherten sich unserem Schiff bis auf fünfzig Meter, dicht genug, daß wir die birnenförmigen, vieläugigen Holokameras erkennen konnten, die an ihren insektenähnlichen Teleskopgliedmaßen nach uns ausspähten. Eine der Stewardessen nutzte geistesgegenwärtig die Gelegenheit, zog Blaine von seinem Sitz und preßte ihn gegen das große Panoramafenster, wo sie ihm die Mündung ihres Lasers an die Schläfe drückte – ein spektakuläres Tableau für die interplanetaren Medien, mit dem die RAG sich einen Platz im Bewußtsein der Öffentlichkeit sicherte.
Unverzüglich preschten zwei Kreuzer vor, um die Medienleichter zu verscheuchen, eine Aktion, die von den Terroristen als Vorbereitung für einen Angriff mißverstanden wurde. Die Stewardeß machte Anstalten, Blaine zur vorderen Schleuse zu zerren, während ihre Kollegin und der Copilot in Erwartung eines Entermanövers die Repetierlaser hervorholten. Als die Militärschiffe gleich darauf wieder an ihre ursprünglichen Positionen zurückgekehrten, wurde ihnen klar, daß es sich um falschen Alarm gehandelt hatte, doch beschloß man, daß der Zwischenfall eine Herausforderung gewesen war, die nicht unbeantwortet bleiben durfte: Ein Passagier mußte geopfert werden, zum Beweis, daß man es ernst meinte, und wer war besser geeignet, die Auswahl zu treffen, als ihr neuer Wasserträger Blaine. »Sei gepriesen, Herr, für diese Fügung«, sagte er, den Blick zum Himmel gerichtet, voller Dankbarkeit für den gewährten Aufschub. Dann versuchte er, die Entführer aus der Lounge in das Passagierabteil zu locken, aber sie bestanden darauf, daß er das Opferlamm aus der eigenen Herde wählte. Er protestierte, wenn auch nicht besonders nachdrücklich, dann musterte er die zitternden Gestalten vor ihm. Er ließ die Augen langsam durch das Abteil wandern, während er sich zweifellos darüber klar zu werden versuchte, welcher der versammelten Parteifreunde am entbehrlichsten war. Ich sage ›zweifellos‹, weil zu guter Letzt sein Blick an mir hängenblieb. Oh, er schaute wieder weg – mehrmals sogar –, um diese oder jene der anwesenden Ehefrauen in Erwägung zu ziehen, doch muß er zu dem Schluß gekommen sein, daß es – gesetzt den Fall, dieser Zwischenfall nahm ein glückliches Ende – unklug war, es sich mit ihren Männern zu verderben, und deshalb kehrte sein Blick immer wieder zu mir zurück. »Angelika. Es war nett, dich mal wiederzusehen. Tut mir leid.«
Die zwei Stewardessen schleppten mich zur Luftschleuse. Selbstverständlich wehrte ich mich, aber meine P9-Kraft fruchtete nichts im Kampf gegen Ebenbürtige und erst recht nicht, als der Copilot ihnen zur Hilfe eilte. »Ich bin ein P9, so glaubt mir doch!« schrie ich. Ohne Erfolg. Man schob mich in die Schleuse, eine winzige Druckkammer und betätigte den Katapultschalter, bevor ich Gelegenheit hatte, meinen Helm aufzusetzen. Das Außenluk öffnete sich mit einem Plopp!, gefolgt von dem ohrenbetäubenden Brüllen der dekomprimierten Luft, und ich wurde in den Weltraum hinausgerissen.
»Das kann unmöglich passieren! Nicht ausgerechnet mir!« schrien meine Gedanken, während ich Purzelbäume schlagend über die Flotten von Militär und Presse hinwegsegelte. Mir blieben fünf Minuten, um den Helm aufzusetzen, bevor die extreme Kälte des grenzenlosen Raums meinen Lebenssaft einfror und mein Vegehirn erstarren ließ. Irgendwie brachte ich es fertig, zerrte an der Reißleine und spürte erleichtert, wie der Anzug sich aufblähte. Anschließend konnte ich bei jedem Salto beobachten, wie die Flotte als Reaktion auf meine ›Hinrichtung‹ zum Angriff auf das entführte Schiff überging. (Aus den offiziellen Berichten geht hervor, daß die Durchführung einer militärischen Rettungsaktion zwar ausgesetzt worden war, um jede Chance zu einer friedlichen Beilegung der Krise zu nutzen, doch General Harpi – der Oberkommandierende der Streitkräfte von Frontera – hatte die Vollmacht des Vizepräsidenten, sofort anzugreifen, sobald die Entführer mit der Exekution von Geiseln begannen.) Obwohl mein Ausblick auf das tragische Geschehen sich nicht mit dem der Medien messen konnte und ich mich auf meiner einsamen Umlaufbahn überdies immer weiter vom Ort der Handlung entfernte, konnte ich trotzdem das Landungsboot am Heck des Schiffs festmachen sehen. Innerhalb von Sekunden hatte das Einsatzkommando eine Notschleuse in der Hülle installiert, dann erhellten Laserblitze die Kabinenfenster wie flackernde Lichterketten an einem Weihnachtsbaum, gleich darauf gefolgt von der lautlosen – wie sich alles lautlos abgespielt hatte –, doch visuell beeindruckenden Explosion, die das Schiff vernichtete.
Als nächstes wirbelte im Sog der Druckwelle ein Schwall von Trümmern an mir vorbei; ein Sitzpolster traf mich in den Rücken und schob mich inmitten der Trümmerwolke vor sich her. Ich war umgeben von geschmolzenen und verdrehten Teilen der Außenhülle, das größte etwa sechs bis sieben Meter lang, mit Bullaugen längs der Mitte. Dazwischen schwebten Überreste der Kabineneinrichtung, Gepäckstücke und Leichen, viele Leichen, teils unversehrt, teils verstümmelt, teils eingehüllt in die Fetzen ihrer Raumanzüge, wie die kunterbunten Überbleibsel eines grausigen Picknicks. Ein schrecklicher, furchtbarer Anblick und lebensgefährlich, weil die leiseste Berührung eines scharfkantigen Plastik- oder Metallsplitters genügte, um meinen Raumanzug zu zerstechen. In Erwartung eines solchen Unglücks holte ich tief Luft und bereitete mich auf ein unausweichliches und qualvolles Ende vor, denn ein P9 kann bis zu zwölf Minuten lang den Atem anhalten. Meine Logikschaltkreise aber rebellierten gegen die sichere Annihilation, und ich verfiel plötzlich auf die abenteuerliche Idee, daß alles, was ich momentan erlebte, nur ein Holo war. Nichts von alledem war real, verstehen Sie, nur ein raffiniert arrangiertes Szenario zur Belustigung der Gebieter. Bestimmt verbargen sich Regisseur, Kamera und Assistenten nur ein paar Meter entfernt auf der anderen Seite dieser phantasievollen Kulisse, bei der es sich um nichts anderes handelte als um eine Vakuumkammer in einer der Studiokuppeln. Das bedeutete leider keineswegs, daß mir nichts zustoßen konnte. O nein! Ganz im Gegenteil, diese Szene sollte wahrscheinlich als warnendes Beispiel für alle rebellischen Einheiten dienen und den Gebietern die beruhigende Gewißheit vermitteln, daß wir Unbelehrbaren am Ende unsere verdiente Strafe erhalten. Womöglich hatte die Farce bereits vor meiner Flucht aus den Stallungen ihren Anfang genommen. Oder mit dem Tag, an dem ich im Wohnzimmer der Lockes zu mir kam! Natürlich. Das war es. Und jetzt war das Publikum meiner überdrüssig, also hatte man beschlossen, sich von mir zu trennen, und meine Termination auf dem Bildschirm war eine spektakuläre Schlußfanfare für eine Langzeitserie, die seit neuestem sinkende Einschaltquoten aufwies.
Dann erspähte ich eine der Schiffstoiletten, die sich gemächlich um die eigene Achse drehte und langsam näher kam. Sie war intakt, nur an der Ober- und Unterseite ragten die verdrehten Stümpfe der Verankerungen heraus. Im Vorbeischweben bekam ich den Türgriff zu fassen und schöpfte neuen Mut, denn ich ging davon aus, daß die Szene so im Drehbuch stand, man also doch noch Verwendung für mich hatte. Meine Rolle, wie ich sie interpretierte, sah vor, daß ich in der Kabine Zuflucht suchte und den Studiokreuzer abwartete, der kommen würde, um mich zu retten. Vorausgesetzt, mir wurde nicht schlecht von den vielen Purzelbäumen und ich erstickte an meinem eigenen Erbrochenen, konnte mir nichts mehr passieren. Doch welch böse Überraschung war das?! Als die Tür aufschwang, merkte ich, daß die Toilette bereits besetzt war. Ein weiterer Überlebender, der wie ich in einem Raumanzug steckte, stand mir gegenüber, hielt sich mit der Linken an der Handtuchstange fest und angelte mit der Rechten nach dem Innenriegel, um die Tür zu verschließen und mich auszusperren. Durch das Visier des Helms konnte ich undeutlich Blaines Gesichtszüge erkennen. Er mußte gleich zu Beginn des Angriffs in die Toilette geflüchtet sein und hatte nach der Explosion die Reißleine des Anzugs gezogen.
Ich schob einen Fuß in die Tür, bevor er sie schließen konnte, worauf er mit wütenden Tritten reagierte. Obwohl ich die Worte nicht hören konnte, ließ sich an seinen ausdrucksstarken Mundbewegungen erkennen, daß er mir jeden erdenklichen Fluch und jedes in seinem Repertoire befindliche Schimpfwort entgegenschleuderte.
»Spar dir den Atem!« gab ich zurück, auch wenn ich bezweifelte, daß er von meinen Lippen ablesen konnte. Ich riß die Tür auf, zerrte ihn mit einem Ruck nach draußen und verschaffte mir einen festen Halt, indem ich den Fuß unter die Handtuchstange hakte. »Siehst du! Jetzt kannst du den Trittbrettfahrer machen.« Ich war nicht wütend auf ihn, müssen Sie verstehen, eher auf die Gebieter hinter den Kulissen, die Blaine Fracass als eine Art Kastenteufel immer wieder aus der Versenkung auftauchen ließen, um mich zu quälen. Er war auch nur ein Schauspieler, nahm ich an, der sich das Mißfallen des Studios zugezogen hatte oder den das Publikum nicht mehr sehen wollte, andernfalls wäre er von der Produktionsleitung niemals für die Rolle des Märtyrers für den Humanismus eingesetzt worden.
Während ich über diese Zusammenhänge nachdachte, umklammerte mein ›Schicksalsgefährte‹ von hinten meinen Helm, und beinahe hätte er mich aus der Kabine gezogen, doch eines seiner zappelnden Beine streifte die gezackte Kante einer Verstrebung, an der er sich den Anzug aufschlitzte. Der Rückstoß der entweichenden Luft ließ mich gegen ihn prallen. Ich verlor den Halt, und beide trieben wir wie ein unfreiwilliges Meteoritenpaar in die Leere des Weltraums hinaus. Da sein Anzug rasch in sich zusammenfiel, begann er in Todesangst um sich zu schlagen, und im Lauf des Handgemenges umklammerten wir uns schließlich Visier an Visier. So hatte ich Gelegenheit, einen ungehinderten Blick auf sein von unaussprechlichem Entsetzen verzerrtes Gesicht zu werfen.
»Die arme Einheit«, dachte ich, von plötzlichem Mitleid überwältigt, und versank in Brüten über die Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit der Gebieter. »Ungeheuer! Wir sind mehr als nur Puppen, die ihr zu eurer Unterhaltung und eurem boshaften Vergnügen tanzen lassen könnt!« Am ärgsten war die Erkenntnis, daß meine Gedanken sie köstlich amüsiert haben würden. Doch konnte man ihnen nicht auch Applaus abringen? In einer Anwandlung von Heroismus – wenn ich das von mir selbst sagen darf –, klappte ich mein Visier auf und dann das meines ›Kollegen‹, um ihm durch Mund-zu-Mund Beatmung neues Leben einzuhauchen. Zu dieser vergeblichen und rein symbolischen Geste fühlte ich mich bewogen, als er im Todeskampf meine Taille umklammerte. Romantik pur und große Geste: Kein Drehbuchautor hätte sich etwas Besseres ausdenken können als diesen tapferen Kuß; so ein herzzerreißendes und tragisches Ende, viel zu gut für das nimmersatte Publikum. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte ich nicht vor, diesen erhabenen Moment der Selbstaufgabe länger als zwei oder drei Sekunden auszudehnen, denn meine Rührung ging nicht so weit, daß ich mein eigenes Wohlergehen vergessen hätte. Doch als ich mich aus der Umarmung lösen und das Visier schließen wollte, stellte ich zu meiner Verblüffung fest, daß unsere Lippen aneinanderhafteten, festgefroren und versiegelt. Ohne Liebe verbunden. Als einer der Schlachtenkreuzer neben uns auftauchte, umwimmelt vom Rudel der Medienschiffe, die sich gegenseitig die besten Plätze streitig machten, verdichtete sich der letzte panikerfüllte Atemhauch vor meinen Nasenlöchern zu zwei bezaubernden Kristallfiligranen. Im nächsten Moment löste sich dieses kunstvolle Wahrzeichen äußerster Verzweiflung zu einer frostigen Wolke auf, die als perfekter Heiligenschein unsere Köpfe umrahmte. Wieder einmal sank ich in den schwarzen Abgrund der Besinnungslosigkeit.